Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

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1. These: Als Theorie menschlicher Interaktion hat die klinische Psychoanalyse Zukunft

Niemand kann sicher wissen, was sich in der Seele eines anderen Menschen abspielt. Die Psychoanalyse behauptet mit ihrem zentralen Konzept des Unbewussten sogar, dass niemand das von sich selbst wissen kann. Das Unbewusste ist mit Freuds Formel „in-neres Ausland”, und wir erhalten manch-mal in Träumen oder Fehlleistungen magere Kunde von diesen Vorgängen. Wir können sie nur modellieren. Wir erschließen unbewusste Vorgänge, wir “erraten” sie, wie Freuds vielfach gebrauchtes Wort dafür lautet. Dies ist ein Vorgang, den er sogar im Alltag am Werke sieht. In seinem Buch über “Die Psychopathologie des Alltagslebens” hat er ein schönes Beispiel dafür überliefert.

Einer Dame will in einer Gesellschaft der Titel des Buches „Ben Hur” nicht einfallen, und Freud (1904, S. 26) fügt dieser Schilderung an, „auch den anwesenden Herren versagt sich der richtige Einfall”. Freuds These ist klar: die Dame setze das Aussprechen des Buchtitels einem sexuellen Angebot gleich.

Interessant ist nun, wie Freud die Teil-habe der Herren an dieser Fehlleistung beschreibt. Er sagt: „Ihr Unbewusstes hat das Vergessen des Mädchens in seiner wirklichen Bedeutung erfasst und es … gleichsam gedeutet.” Und um keinen Zweifel daran zu lassen, dass er hier das Unbewusste nicht als Objekt einer Deutung sieht, sondern ihm die Kompetenz der Deutung zuspricht, schreibt er weiter: „Man kann in der Tat ganz allgemein behaupten, dass jedermann fortwährend psychische Analyse an seinem Ne-benmenschen betreibt und infolgedessen diese besser kennen lernt als jeder Einzelne sich selbst.” In „Totem und Tabu” (GW IX, S. 191) wiederholt er, die Psychoanalyse habe gelehrt, „dass jeder Mensch in seiner unbewussten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt, die Entstellungen wie-der rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen hat”. Diese starke These behauptet also, das Unbewusste sei Subjekt der Deutung, nicht deren Objekt. Es deutet, nimmt wahr, ordnet ein, diagnostiziert – mit allen Ungewissheiten, immer aber beständig. Ohne Deutung keine Interaktion – doch was Psychoanalytiker deuten, ist dann eine „Deutung der Deutung”; wir deuten, wie ein Patient eine bestimmte Gegebenheit auffasst. Der Patient erscheint als kompetentes, sich seine Welt und seine Beziehungen „deutendes” Subjekt. Und wei-ter kann man folgern: Er, der Patient, behandelt sich immer schon selbst, bevor er in eine Behandlung eintritt. Professionelle Behandlung wäre dann konsequent als Supervision schlechter und unzureichender Selbstbe-handlungen aufzufassen (ein Beispiel mit Transkripten bei Buchholz 1996).

Die empirische Forschung hat mitt-lerweile für solche in rasantem Tempo ablaufenden Deutungen Material beigebracht. Krause (1992, Krause et al. 1996) beobachtet die mimische Synchronisation von klinisch Gesunden mit psychiatrisch auffälligen Partnern. Sie vollzieht sich in Sekundenschnelle, und Krause zögert nicht, darin das Stellen einer „vorbewussten Diagnose” zu sehen. Der Sozialwis-senschaftler Frank Nestmann (1988) untersuchte „alltägliche Helfer”, also Gastwirte, Friseure, Barkeeper, Taxifahrer. Sie werden oft als Ansprech-partner für Problemlagen wahrgenommen. Wie reagieren sie? Nestmann stellt fest, dass sie ein „Diagnostikum” verwenden. Wirte schätzen ihre Gäste z.B. nach der Sitzplatzwahl im Lokal ein. Wer sich in eine Ecke verdrückt, wird wohl irgendwie problematisch sein. Taxifahrer beobachten den Gang aufs Taxi zu, registrieren die Entscheidungsdauer bis zum Einsteigen und rechnen von da aus auf zu erwartende Problemgespräche hoch.

Dem „Dialog auf die Spur” zu kommen, ist das erklärte Anliegen des Ulmer Lehrbuches von Thomä und Kächele; es geht, wie auch bei den baby-watch-ern um das “attunement” zwischen kompetenten Beteiligten. Hier können auch sozialwissenschaftliche Befunde eingebracht werden.
Die Mikrosoziologie der Interaktionen hat eine Fülle von detaillierten Methoden der alltäglichen Deutung beschreiben können. Einige liste ich auf, weil diese Forschungsrichtung Freuds These vom Unbewussten als Subjekt der Deutung belegt.

Eine erste generelle Methode ist, jedem interaktiven Ereignis einen Sinn zu geben. Das Unbewusste ist Subjekt. Ereignisse werden auf einer „case-by-case”-Basis (Schegloff 1987, S. 102) interpretiert. Wenn ich mich bei diesem Vortrag daneben benehme und plötzlich bizarre Verhaltensweisen zeige, würde das von Ihnen nicht als statistische Anomalie verrechnet, sondern Sie als Zuschauer versuchen, dem irgendeinen Sinn beizulegen – ganz unabhängig davon, ob Sie in psycho-analytischer Ausbildung waren oder nicht.

Eine weitere Methode ist, Ereignisse zu typisieren. Ein 14-Jähriger ist dem Einen noch ein Kind, dem Andern schon ein Jugendlicher. Er wird als Typ erfasst. Objekte solcher Typisierung sind auch Interaktionsgestalten. Man stelle sich den folgenden Dialog auf einer Straße vor:
Passant: „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?”
Angesprochener: „Ja, es ist halb neun”.


Bildquellen

  • Psychoanalyse auf der Couch: Harald Keller