Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

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3. „Klinische Falldiskussionen”

Eine dritte Strategie will Klärung der Probleme durch Zugriff auf die im engeren Sinne psychoanalytische Empirie, den Fall. Falldarstellungen sind beliebt und man muss den Mut derjenigen, die Fälle präsentieren, ohne jeden Einwand bewundern. Reaktionen sind prognostizierbar: Jemand wird aufstehen und vertreten, es habe sich nicht um Psychoanalyse, sondern „nur” um Psychotherapie gehandelt; andere verteidigen die Präsentation, während Dritte sich nicht im Sitz halten können vor Mitteilungsdrang, wie das Material anders, sprich: besser zu verstehen sei. Zur Internationale der Besserwessis gehöre ich natürlich auch oft dazu.

Jeder kennt Debatten unter Psychoanalytikern, in denen einer seine Position mit der Behauptung untermauert, er habe kürzlich einen Patienten gehabt, bei dem es sich genau so verhalte, wie es die gerade von ihm vertretene Theorie fordere. Ein anderer reagiert mit einem Gegenbeispiel, und die Frage wird nicht entschieden.

Streeck (1994) hat vier renommierten Psychoanalytikern der beiden deutschen Gesellschaften das Transkript einer einzigen psychoanalytischen Sitzung vorgelegt mit der Bitte, zu inter-petieren, was ihrer Meinung nach in dieser Stunde geschehen sei. Natürlich gab es vier völlig verschiedene Meinungen. Die Interpretationen der vier Analytiker wurden aufgezeichnet und in einer zweiten Untersuchungsrunde wiederum den drei je anderen zur Stellungnahme vorgelegt. Man bestätigte sich gegenseitig „blinde Flecken” oder vermutete beim je anderen gar unanalysierte Restneurosen. Kurz, diese Strategie stimmt nicht gerade optimistisch, jedenfalls solange nicht, als Einheitlichkeit der Auffassungen als höchster Wert im wissenschaftlichen Kontext angesehen werden muss. Dann kann man nur babylonische Sprachverwirrungen diagnostizieren und muss verzweifeln.

Buchholz und Reiter (1996) haben klinische Falldarstellungen in psychoanalytischen und familiendynamischen Fachzeitschriften über je 5 Jahrgänge untersucht. Die weitaus häufigste Form der Fallgeschichte ist der 5-Zeiler, also die Form mit minimalem Informationsgehalt; lange Fallgeschich-ten oder gar Transkripte sind in beiden Schulen sehr selten. Wir sprech-en von der “Sonatenform der Fallge-schichte”: Einer langen theoretischen Exposition folgt eine knappe Durchführung am Fall, der wiederum eine Reprise des theoretischen Themas folgt. Spence (1993) hat gefordert, das klinische Material so umfangreich zu präsentieren, dass andere theoretische Schlüsse als die des Autors aus dem Material überhaupt gezogen werden können. Dieser Vorschlag schätzt die professionell-praktische Erfahrung, dass es viele Methoden gibt, wie der Kuchen angeschnitten werden kann.
Auch der damalige Herausgeber des „Intern. Journal”, David Tuckett (1993) meint, ausführliche Falldarstellungen seien so selten, weil der Drang zur theoretischen Einheit eine soziale Funktion für den Zusammenhalt der psychoanalytic community hätte. Sie könnte bei theoretischem Dissens auseinanderbrechen, die Angst davor ist groß. Falldarstellungen sind demnach nicht nur mit inhaltlichen Problemen belastet, sondern zusätzlich von einer sozialen Integrationsaufgabe. Dass dies freilich auch bei den familiendynamischen Schulen zu beobachten ist, lässt vermuten, dass es sich nicht um eine psychoanalytische, sondern um eine Besonderheit der professionellen Kommunikation handelt, die schulenunabhängig ist. Tatsächlich, professionelle Praktiker kommunizieren in vielerlei Sprachen, und es gibt Schilderungen wie die von John Klauber (1977), die zutiefst erleichtert feststellen, dass sie es 10 Jahre nach ihrer Ausbildung geschafft haben, sich von der theoretischen Über-Ich-Last zu befreien. Es könnte also sein, dass gerade der Drang nach Einheitlichkeit die babylonische Sprachverwirrung hervorbringt (statt sie zu lösen), während die professionelle Praxis in vielerlei Zungen redet. Das professionelle Pfingsten wäre die Antwort auf das wissenschaftliche Babylon.


Bildquellen

  • Psychoanalyse auf der Couch: Harald Keller