Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse der Zukunft der Psychoanalyse

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Bis hierher typisieren wir die Situation als eine, in welcher eine Auskunft erbeten wird. Das kennen wir, dafür haben wir praktische Typologien von der Art zur Verfügung: „Ach so, hier handelt es sich um…” Was aber, wenn der Passant auf die Mitteilung, es sei halb neun, antwortet: „Gut! Sie können es!”? Plötzlich würden wir gewahr, dass er eine ganz andere Typisierung vorgenommen hat; ihm ging es nicht um eine Auskunftserteilung, er typisiert die Situation rückwirkend als eine, in welcher er die Fähigkeit des Befragten, ob er die Uhr lesen kann, geprüft hat. (*5)

Typisierungen haben eine episodische Struktur. Wenn ein Freund zum andern sagt: „Kennst du den schon?”, dann ist ziemlich klar, jetzt soll ein Witz erzählt werden. Der Typ der Situation wird indiziert, wobei es zu Missverständnissen besonderer Art kommen kann, bei denen es nicht nur um einfaches Falschverstehen geht, sondern darum, dass der Typ der Situation, in der man sich zu befinden meint, verschieden aufgefasst wird. Solche „typischen Missverständnisse” begegnen uns in Therapien. Patienten fassen Behandlungen z.B. als “Beichte” oder als „ärztliches Gespräch”, als „Umgekrempelt-Werden” oder als „Schulunterricht” auf (Thomä und Kä-chele 1988, Kap. 7). In letzterem Fall (v. Kleist 1987) mögen sie z.B. eine Stunde mit den Worten beginnen: „Wir sind das letzte Mal stehen geblieben bei…” oder sie könnten sagen, ihr Ziel sei, dies oder jenes zu „lernen”. Worte wie „lernen” zeigen an, wie der Betreffende die Situation auffasst.

Vielfache andere Typisierungen der therapeutischen Situation kann man leicht anfügen. Man erkennt sie daran, dass man das Wörtchen „als” verwendet. Professionell ist dann die Kunst, sich zu verständigen, obwohl Beteiligte die Situation so verschieden auffassen. Dazu nutzt der Kliniker das Konzept der Übertragung; es erklärt ihm, wenn einer die Situation als „Beichte” auffasst. Der Kliniker typisiert die Situation damit seinerseits. Übertragung ist dann nichts, was der Patient „hat”, sondern was der Therapeut „sieht” (Schafer 1976) – als Konzept (nicht als Tatsache) ermöglicht es dem Therapeuten die professionelle interaktive Leistung. Wenn wir also an Beschreibungen und Selbstbeschreibungen fixiert sind, wie Marcia Cavell (1997, S. 143) Freud wiedergibt, kann man solche Fixierung natürlich als „Wiederholung” bezeichnen oder eben als Übertragung der Vergangenheit auf die Gegenwart. Das Entscheidende ist das Angebot einer neuen „Interpre-tationsstrategie”, „die uns Beschreibungen zugänglich macht, die uns früher unzugänglich waren”. Das Konzept der Übertragung ist ein solches professionelles Werkzeug in der Interaktion, es macht neue Beschreibungen und Selbstbeschreibungen zugänglich und verbindlich. Das hat heilsame Wirkungen dann, wenn die professionelle Kunst es schafft, sie als neu und zugleich als anschluss-fähig, also nicht überwältigend, anzubieten. Paare schaffen das hin und wieder; sogar dann, wenn der Mann die Ehe als ökonomisches Unternehmen, seine Frau sie hingegen als eine spirituelle Reise typisiert. Einem Patienten, der Entlastung vom seelischen Druck erwartet, kann man nicht umstandslos mit dem Vorschlag, „Schach” zu spielen – eine andere von Freuds Metaphern – kommen; es braucht Interaktion.

Auch narrative Formen (Boothe) oder konversationelle Formate (Stefan Wolff /Streeck) gehören zu den alltäglichen Methoden. Sie befähigen uns, in unseren Interaktionen zu bestehen getreu der Devise Freuds, dass jedermann ständig psychische Analyse an seinem Nebenmenschen betreibe. Und ich meine, es wäre nicht falsch, psychotherapeutische Interaktion als Spezialfall verändernder Interaktionen aufzufassen. (*6)

Psychotherapie und Sozialwissenschaft im Verbund mit anderen Nachbarn – ich habe beispielhaft cognitive science und die baby-watcher erwähnt – wäre also ein interessantes Programm der Zukunft. Da jede Therapie ihre eigenen, höchst individuellen Kontexte entwickelt, ist Psychoanalyse nicht nur eine „talking cure”, sondern – mit einer Veränderung von nur 3 Buch-staben (Wolff und Meier 1995) – eine „talking culture”.

Aufklärungsbedarf für unbewusste Aspekte auch unserer kulturellen Iden-titäten besteht hinsichtlich unserer Xenophobie gegenüber den Nachbarn. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass solche Xenophobie sich auf empirische Nachbarn nicht erstreckt – hier gibt es kaum Berührungsängste! Angst vor den Nachbarn gibt es seltsamer-weise bei der – psychoanalytischen Einsichten doch so viel näher stehenden – Mikrosoziologie der Interaktionen und bei den Kognitionswissen-schaften. Eine gewisse Aufklärung der „talking culture” über sich selbst könnte ein nicht ganz unwichtiger Nebeneffekt einer Psychoanalyse der Psychoanalyse werden – mit Öffnungs-chancen.


Bildquellen

  • Psychoanalyse auf der Couch: Harald Keller